Apokalypse und mise en abyme. Der Bildtypus der vera icon als bildlicher Logos
In der Apokalypse, wörtlich: im Abnehmen des Schleiers, vollzieht sich nach religiöser Vorstellung am Ende der Zeiten die Schau Gottes. Diese Schau ist nicht mehr durch den Schleier des Körpers und der sinnlichen Wahrnehmung getrübt, sondern offenbart das rein Geistige selbst, wie etwa Johannes von Damaskus in seiner Bildphilosophie ausführt. In diesem Sinne stellt die Apokalypse eine Gegenbewegung zur Inkarnation dar, in welcher sich Gott nach christlichem Glauben in Menschengestalt der sinnlichen Vorstellung zeigt. Dieser Konstellation ist mit den Fragen nach der Sichtbarkeit, der buchstäblichen Vor-Stellung und den Modi des Sehens eine Dimension des genuin Bildlichen und Künstlerischen eingeschrieben. Der Bildtypus des ‚wahren Christusbildes‘ ist, zuletzt in seiner westlichen Form der vera icon, die markanteste Auseinandersetzung mit dieser Konstellation.
Die mise en abyme stellt eine geeignete Denkfigur dar, um diesen Vorgang zu fassen. Ursprünglich aus der Heraldik stammend beschreibt sie eine Wiederholung der Struktur des Ganzen in einem Teil seiner selbst. Auf die vera icon gewendet heißt dies: der Abdruckvorgang im Tuch wiederholt innerhalb der Sichtbarkeit den Vorgang der Inkarnation, der sich selbst jenseits der Sichtbarkeit abspielt. Sie fasst damit im Bild den Vorgang der seinerseits bildlich verstandenen Inkarnation (Col. 1,15) und so reziprok auch die Rücknahme des Körperschleiers am Ende der Zeiten. Damit ist die vera icon ein Bildtypus, der Bildwerdung einerseits und eschatologische Apokalyptik andererseits selbst in die Sichtbarkeit einholt. Im Entstehungsvorgang der vera icon steht deiktisch vor Augen, was zuvor ‚im Rücken‘ lag und dem Sehen entzogen war. Deutlich ist im Laufe der Entwicklung des Bildtypus eine Einholung des zuvor Nicht-Gesehenen zu bemerken, wenn das Tuch nicht mehr das Bild selbst ist, sondern als Tuch im Bild mit seiner Trägerin Veronika selbst in Erscheinung tritt. Die These, die hier verfolgt werden soll, lautet entsprechend, dass sich diese Form der mise en abyme im Bildtypus der vera icon in den künstlerischen Bildern selbst abspielt und mit den Bildern dergestalt eine genuin bildliche Argumentation, ein ‚ikonischer Logos‘ vollzogen wird, der selbst Modus der Reflexion ist. Bei Robert Campin etwa oder bei Francisco de Zurbarán zeigt sich genau jene Einholung des zuvor Uneingeholten im Bild selbst in einer prägnanten und reflektierten Form. Auf diese Weise steht am Beginn der Neuzeit der paradigmatische Umgang mit einem Bildtypus, der als Gang und Ergebnis eines bildlichen Logos im Feld von Kunst, Religion und Politik verstanden werden kann.
Christoph Poetsch studierte Philosophie und Bildende Kunst in Heidelberg, Karlsruhe und Porto. Er ist aktuell Doktorand an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und arbeitet als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes an einem Projekt zur systematischen Stellung des Bildbegriffs in der Philosophie Platons. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der antiken Philosophie und des Platonismus sowie im Grenzbereich von Philosophie und Kunst. Zuletzt war er künstlerischer Stipendiat der Cité Internationale des Arts in Paris.