Damnatio memoriae. Künstlerische An- und Enteignungsprozesse am Beispiel der Denkmalskulptur in der Türkei
Unter dem Motto „in unserer Religion ist kein Platz für Götzenverehrung“ fanden in verschiedenen Provinzstädten der Türkei allein in diesem Jahr sechs Übergriffe auf Atatürk-Denkmäler statt. Die im Zuge der Nationsbildung überall im Land aufgestellten Büsten, Standbilder und Gedenktafeln, die nicht nur an die türkischen Befreiungskriege (1919–1922) und Staatsideologie zum Zeitpunkt der Republikgründung (1923) erinnern, sondern sich auch in der Figur Mustafa Kemal Atatürks (1881–1938), dem Vater der Türken, zentral verbinden, sind für das Verständnis der kulturellen Identität der heutigen Türkei von großer Bedeutung. Entsprechend werden die meist fanatisch-religiösen Angreifer im öffentlichen Diskurs scharf verurteilt und die Verantwortlichkeit für ihre Handlung unter dem Gesichtspunkt fehlender Zurechnungsfähigkeit (z.B. Geisteskrankheit) angezweifelt. Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen im Land allerdings verweisen diese ikonoklastischen Interventionen auf die in der Türkei disparaten gesellschaftlichen Wert- und Ordnungsvorstellungen, die sich seit der Einführung des Laizismus als Staatsmodell in Gestalt des ‚Kemalismus’ und in Gestalt des ‚Islams’ dichotomisch gegenüberstehen und insbesondere seit den 2000er Jahren eine Beziehung der gegenseitigen Abgrenzung herbeigeführt haben.
Der Vortrag unternimmt einen Erklärungsversuch und kontextualisiert am Beispiel der Skulptur sowohl die Formen der kollektiven Aneignung als auch die damit verbundenen unterschiedlichen Konfliktlagen in den Bereichen Kunst, Politik und Religion. Dies erscheint aus zwei Gründen notwendig. Zum einen steht die relativ späte Einführung der westlichen Gattung Skulptur (aus Glaubensgründen), welche im Zuge spätosmanischer Modernisierungsprozesse mit der Gründung der Istanbuler Kunstakademie (1882) und der Einrichtung einer ersten Bildhauereiabteilung zusammenfällt, einer geradezu inflationären Verwendung der Skulptur als repräsentative Denkmalplastik in der Republik Türkei bis in die 1970er Jahre gegenüber. Zum anderen differenziert sich diese Form der narrativen Vermittlung historischer Ereignisse in Bildern, die gleichzeitig für die kemalistische Kunstdoktrin mit westlicher Ausrichtung steht und staatlich gefördert wurde (z.B. in den 1930er Jahren Reformen durch Exilierte wie Rudolf Belling), seit Öffnung der Märkte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch individuelle künstlerische Ausdrucksmittel aus. Eine regelrechte Bilderfeindlichkeit hingegen entwickelt sich im Kontext des Neoliberalismus und der damit verbundenen reaktionären Politik neuer Autoritäten (seit 2004) zugunsten der Etablierung einer neuen Makronarrative. Das Überzeichnen solcher Bilder (z.B. Kritik am Konterfei Atatürks) als Ausdruck neuer Identität und Festschreibung dieser Identität sowie Unterminierung der alten Identität soll notwendigerweise als offener Diskurs und aus dekonstruktivistischer Perspektive betrachtet und mit den Themen Popularisierung, Polarisierung und Nischenbildung diskutiert werden.
Buket Altinoba Akademische Mitarbeiterin, Fakultät für Architektur, Institut für Kunst- und Baugeschichte, Fachgebiet Kunstgeschichte, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Geb. 1980. Studium der Kunstgeschichte 2005 in Karlsruhe (TU), 2012 Promotion bei Norbert Schneider am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zum Thema der Theorie und Praxis der Kunst in der Türkei (publiziert als „Die Istanbuler Kunstakademie von ihrer Gründung bis heute. Moderne Kunst, Nationsbildung und Kulturtransfer in der Türkei“ Berlin 2016). Derzeit tätig als akademische Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Baugeschichte am KIT. Bis 2016 Fellow im Mathilde-Planck-Lehrauftragsprogramm an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Zwischen 2006 und 2010 assoziierte Kollegiatin und Promotionsstipendiatin des Graduiertenkollegs „Bild. Körper. Medium“ an der HFG in Karlsruhe. Seit 2013 Mitglied der AG „Kunstproduktion und Kunsttheorie im Zeichen globaler Migration“ des Ulmer Vereins für Kunst- und Kulturwissenschaften sowie Mitglied der Forschungsgruppe „Research Network for Transcultural Practices in the Arts and Humanities (RNTP)“ HU Berlin. Forschungsthemen: Weltausstellungen in globalen Kontexten; Migration, Exil und Moderne; Kunstakademien, Künstlerreisen und Netzwerke; Kunst, Architektur und Nationsbildung in der Türkei 19. und 20. Jahrhundert.